Matthi ASS Brien
Matthi ASS Brien

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teilweise zu aktuellen Beiträgen aus Presse, Rundfunk und anderen Medien.

50 Jahre Autismusförderung  (erschienen in Autismus Stärke oder Störung, Hrsg Autismus-Deutschland, 2020)

 

Ein Zeit-Reisebericht eines Betroffenen. Eine Auseinandersetzung mit der Haltung der Gesellschaft.

Wo stehen wir heute?

 

Matthias Brien

 

Ein kleiner 6jähriger Junge wird von seiner Mutter zu einer Psychologin in der Hildesheimerstrasse in Hannover gebracht. Die Diagnose des Kindes lautet: Mutismus. Die Psychologin stellt das Kind an einen Tisch. Auf dem Tisch außer Reichweite des kleinen Kinderarms sind ein paar Spielzeugautos aufgebaut.

Der Aufbau für die Therapie ist einfach und klar: sagt das Kind etwas, wird ein Auto vorgezogen und das Kind darf eine bestimmte Zeit mit dem Auto spielen. Dann ist die Zeit abgelaufen und das Kind erneuert den Zeitrahmen mit einem neuen Wort. Sagt das Kind dann nichts, gibt es kein Auto. Das Kind steht vor dem Tisch. Es macht nur zögerliche Anstalten nach einem Auto zu greifen und sagt nichts. Die Regeln werden dem Kind noch einmal erklärt. Um mit den Autos spielen zu können muß es etwas sagen. Das Kind spürt, dass es keine Worte hat. Selbst wenn es wollte, gäbe es nichts zu sagen. Nach einer halben Stunde kommt die Mutter ins Zimmer und unterhält sich mit der Psychologin. Auf dem Heimweg, mitten auf der Straße, gibt die Mutter dem Kind eine kräftige Ohrfeige, weil es sich wieder so bockig angestellt hat. Der Gang zur Psychologin wiederholt sich Woche für Woche. Das Ende ist jedes Mal das Gleiche.

 

Diese Geschichte von mir als kleinem Jungen, der temporär die Sprache verloren hatte, spielte sich vor 60 Jahren ab. Sie ist Ausgangspunkt meiner Überlegungen und Gedanken zur Autismusförderung. Das Thema dieses Beitrags ist die Frage nach den Annahmen. Welche Annahmen wurden vor sechs Jahrzehnten gemacht? Welche Annahmen machen wir heute? Was hat sich in der Zeit der wissenschaftlichen Autismusforschung verändert? Warum ist diese Frage wichtig? Annahmen gestalten unsere Wirklichkeit. Seit Kant ist klar, dass wir selbst in einem ganz erheblichen Maße durch unsere Urteile zur Konstruktion unserer eigenen Wirklichkeit beitragen. Urteile werden aufgrund von Annahmen gefällt. Autismus gibt es aufgrund von Annahmen. Denn Autismus wird bis heute ausschließlich über Beobachtungen diagnostiziert und ist damit eine Verhaltens-Diagnose. Autismus wird allgemein als Nomen verstanden, als ein Begriff, der auf ein Etwas verweist, welches es zu entdecken gilt. Es gibt derzeit eine regelrechte Flut von neuen Büchern, die sich dieser Suche widmen. Und es gibt auch ebenso viele Therapeuten, die sich mit einer Therapieform ausrüsten und damit auf dem weiten Feld des unbekannten Autismus-Phänomens auf sich aufmerksam machen.

 

Autismus wird in unserer Kultur im platonischen Sinn als ein Abbild von Etwas aufgefasst. Bei Platon ist ja das Erkennen stets ein Abbilden des Vermeintlichen oder des doch Vorgefundenen. Seit Platon sind wir in unserer Kultur „Substanz-Denker“. Irgendwo scheint es da ein Etwas zu geben, dessen Abbild sich mit unserem Begriff „Autismus“ decken muß. Und wenn wir nur intensiv genug suchen, werden wir dieses Etwas schließlich finden, und damit auch den „wirklichen Autismus“.

 

Für mich ist Autismus aber kein Etwas, sondern ein Tun, eine reale Handlung, eine ständige Tätigkeit, meine Tagesform, die Charakter und widrige Umstände aufzunehmen vermag. Das wird häufig durcheinandergebracht. Vielleicht in dem Sinne von Donna Williams, die während eines Interview in den 1990ern sinngemäß sagte: „Sonst filmen die Leute autistische Verteidigungsmechanismen und nennen das Autismus. Das ist es nicht. Es sind nur Schutzmechanismen, das ist der Unterschied.“ [1]

Autismus ist für mich mein unmittelbares Reagieren auf meine autistische Wahrnehmung. Ich glaube, es ist hilfreich, sich Autismus auf diese Weise vorzustellen. Meine Annahmen von heute darüber, was Autismus ist und wie Autismus erlebt wird und die Annahmen der Generation meiner Eltern über Kindererziehung, insbesondere bei einer Behinderung, stehen sich diametral gegenüber.

 

Die Annahmen der Generation meiner Eltern wurden im 3. Reich erworben und meist nie korrigiert. Für diese Generation war das, was später als Autismus-Spektrum-Störung (ASS) diagnostiziert wurde, stets und ausschließlich ein Anlass für Ärger, Verunsicherung und Ohnmacht. Als Familie fürchtete man sich außerdem vor der realen Ausgrenzung durch die Gesellschaft. Man schämte sich. Da aber nach dem Krieg viele Kinder wegen ihrer traumatisierten Eltern verhaltensauffällig waren, war die Toleranz der Verhaltensauffälligkeit durch ASS recht hoch, wenn sich diese Kinder in irgendeiner Form nutzbringend in der Gesellschaft einsetzen ließen. Zu dieser Ansicht bin ich durch eigene Erfahrung und auch durch Gespräche mit anderen Betroffenen gekommen. In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren gab es eine Vielzahl von Beschäftigungsmöglichkeiten, denen ich nachgehen konnte. Zum Beispiel konnte ich in den Pausen gewissenhaft auf dem Schulhof Papier aufsammeln. Solange ich das tat, waren dem Hausmeister meine Verhaltensauffälligkeiten egal. Die sozialen Schwierigkeiten dagegen hatten ein viel größeres Gewicht. Das scheinbare Nicht-Gehorchen, mein Eigenbrötlertum und wenn ich das Gemeinte nicht verstanden habe, brachte das damals schon, genau wie heute, nichtautistische Menschen an ihre Grenzen. Manchmal legte ich mir im Unterricht das Schulbuch auf den Fußboden, senkte den Kopf und las es unter dem Tisch, was bei den Lehrern stets Unverständnis und Ärger erregte. Wie reagierte man? Ich wurde aufgefordert, das Ärgern, das Widerborstige und jegliches Frechsein zu lassen. Man hatte den Eindruck, ich könnte einen inneren Schalter betätigen und danach wäre die Welt so, wie sie sein sollte. An eine Hilfestellung, die mir hilft die Voraussetzungen zu schaffen, um die Welt besser zu verstehen, hatte man noch nicht gedacht. Eine solche Hilfestellung wäre ein Verständnis und natürliche Empathie für das, wie es dem Kind/Schüler gerade geht.

 

Die heutige Sicht, dass das autistische Kind aufgrund seiner etwas anderen Wahrnehmung auch einige andere Bedürfnisse haben könnte, war in den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg, Eltern und Therapeuten völlig fremd. In den 1980er und 1990er Jahren hieß es seitens meiner Therapeutin, bei der ich eine jahrelange tiefenpsychologisch orientierte Gesprächstherapie machte, mir würde die Befriedigung frühkindlicher Bedürfnisse (Personenkonstanz) nicht mehr zustehen. Ich habe dann aufrichtig versucht, erwachsene Bedürfnisse sehr wichtig zu nehmen und alles andere zu vernachlässigen. Teilweise war es mir in dieser Zeit sehr unangenehm, mich mit meinen Bedürfnissen so geirrt zu haben oder auch solche Bedürfnisse überhaupt zu empfinden.

 

Der amerikanische Psychologe John B. Watson, der Vater des Behaviorismus, forderte, dass man Kinder möglichst sich selbst überlassen sollte. „Watson forderte, dem Kind solle die Mutterliebe entzogen werden, noch bevor es sieben Jahre alt wird. Denn Mutterliebe mache angeblich das Kind abhängig und hindere es daran, die Welt zu erobern. Seiner Ansicht nach schränken übermäßige Liebkosungen das psychische Wachstum ein und behindern spätere Erfolgschancen.

Keine Mutter solle ihr Kind auf den Schoß nehmen. Die Reinlichkeitserziehung solle mit acht Monaten abgeschlossen sein. Watson propagierte eine Spezialkonstruktion, auf der das Kind hinter verschlossenen Türen festgeschnallt wurde, bis es seine Verdauung bewältigt hatte. Es sei auch von Übel, sich zu sehr an vertraute Personen zu gewöhnen. Die Mütter könnten durchaus gewechselt werden. Das Kind solle möglichst viel allein gelassen werden.“ [2]

 

Das Denken Watsons galt als wissenschaftlich und kam zusätzlich auch noch aus dem glorreichen Amerika. Ein Aspekt, der in den 1950er und 1960er Jahren eine ungeheure Attraktivität hatte. Man wollte modern sein. Meine Mutter auch. Der rigorose Behaviorismus galt als Königsweg für die Behandlung psychiatrischer Auffälligkeiten. Das wurde erst in den 1960er Jahren, im Rahmen der kognitiven Wende, teilweise nicht mehr so streng gesehen. Die sozialen Probleme autistischer Menschen wurden in der NS-Zeit mit dem Begriff „Gemeinschaftsfremde“ belegt. „Gemeinschaftsfremde“ wurden mit „Asozialen“ gleichgesetzt. Der Begriff „Asozialer“ wurde folgendermaßen definiert:

„Als asozial gilt, wer durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will. Danach sind z. B. asoziale Personen die, die sich der in einem nationalsozialistischen Staat selbstverständlichen Ordnung nicht fügen wollen.“ (Gernot 2016) Während dieser Zeit entwickelte Hans Asperger das Symptombild des „Autistischen Psychopathen“ (vgl. Asperger 1944). Aus diesem Symptombild hat sich in den 1980er Jahren das Bild des Asperger Autisten entwickelt. Als Kind seiner Zeit hat Asperger den Aspekt des sozialen Miteinanders besonders betont bzw. die Probleme der sozialen Kommunikation als großes Defizit gesehen. Bis in die heutige Zeit hinein wird das „Nicht-Mitlaufen in den Gemeinschaften“ als die Verhaltensauffälligkeit schlechthin betrachtet, wenn es um Autismus geht. Das Nicht-Mitmachen verunsichert den Anderen enorm, er fühlt sich provoziert. Nicht aus langen Überlegungen heraus, sondern ganz spontan bildet sich die aggressive Haltung gegenüber dem, der anders ist, der fremd ist und der nicht mitmacht, aus welchem Grund auch immer. Auch wir stülpen dem autistischen Menschen immer noch das Bedürfnis nach einer Gemeinschaft nicht-autistischer Art kompromisslos über. Selbst Fachleute aus den Autismusambulanzen haben häufig große Schwierigkeiten, die Unsicherheit und das Abwehrverhalten autistischer Menschen zu ertragen, geschweige denn zu verstehen. Erst seit wenigen Jahren haben sich einige Autoren von der Annahme getrennt, in der Begegnung mit einem autistischen Menschen läge der Fokus grundsätzlich im Ausloten von Therapiemöglichkeiten. Stattdessen wird auch darauf geschaut, wieso sich bei beiden Menschen gegenseitiger Ärger und Aggression bilden kann. Was sind die Ursachen für diese Eskalation? (vgl. Riedel, Clausen 2016) Wie wird heute das, was uns am autistischen Menschen stört, beschrieben? „Einige Menschen reagieren schnell mit Wut auf ihr autistisches Gegenüber. Die meisten von ihnen werden sich in solchen Situationen fragen, warum sie plötzlich so wütend sind. Psychoanalytisch geschulte Personen werden nicht selten diese Wut als eine Reaktion auf ein Übertragungsangebot des Patienten interpretieren, beispielsweise in dem Sinn, dass die Eltern des Patienten häufig wütend auf ihn reagiert haben und dieser im Rahmen eines Wiederholungszwanges sein Gegenüber automatisch in Wut versetzt.

Hier ist nun äußerste Vorsicht geboten, denn die Wut des neurotypischen Behandlers kann auch ganz anders zustande kommen. Beispielsweise wird die Übertretung von unausgesprochen und unbewussten Regeln der Konversation oft gar nicht bewußt registriert, sondern löst lediglich einen diffusen Zorn aus ...“ (Riedel, Clausen 2016 S. 53). „Menschen, die über ein hohes Maß an Empathie verfügen und diese auch als therapeutisches Instrument nutzen, um ihr Gegenüber zu verstehen, werden öfter feststellen, dass sie auch mit ihrer neurotypischen Empathie das autistische Gegenüber ziemlich missverstehen können. Und auch die Irritation darüber, dass der Patient das emphatisch Wahrgenommene weit von sich weist oder dem gar vehement widerspricht, kann starken Ärger bei uns wachrufen.“ (Riedel, Clausen 2016 S. 54) Ich möchte noch einen weiteren Autor zitieren, der genau dieselbe Beobachtung gemacht hat. Roman Widholm hat Philosophie studiert und ist Psychotherapeut in Wien und arbeitet in einer Autismusambulanz. „Diese autistischen Kinder haben ein Gespür dafür, die Wahrheit zu sagen, die schmerzt und das Gegenüber zu einer Reaktion herausfordert. Eine Reaktion des Therapeuten auf seinen Klienten, die nicht selten von der Charakteristik geprägt ist, den anderen zu quälen und zu zerstören. Also etwas zurückzugeben, von dem, was der Abnorme einem zumutet. Es auszuspucken, es dem anderen ins Gesicht zurück zu spucken, auf dass er verschwindet.“ [3] Roman Widholm betont die Wichtigkeit der Reflexion darüber, was die Therapie-Form mit dem Therapeuten machen kann. Ganz besonders geht es ihm um den Aspekt der Gegenübertragung. Die gängigen Therapieformen verleihen dem Therapeuten Macht. Der Therapeut erträgt dann die Schwäche des Kindes nicht. Therapeuten ertragen nicht, was da an Unerhörtem gesagt wird. Eine Tatsache, die nicht unreflektiert bleiben sollte. In Anbetracht der Gefahr einer Gegenübertragung prangert er unter anderem die Verfahren von TEACCH und ABA an. Er behauptet sogar, dass die Position der Betreuer in Ausübung dieser Methoden zu negativer Gegenübertragung geradezu einlädt. Widholm sieht in dieser rigiden, verhaltenstherapeutisch orientierten Erziehung einen Faktor, der die Folgen der Behinderung für das Kind und seine Umgebung negativ beeinflussen kann. Dieses ist häufig ein absolutes Tabuthema für die Eltern, man kann es kaum diskutieren.

 

Auch noch heute treffe ich in Selbsthilfegruppen auf Eltern, die von mir Tipps erwarten, wie sie ihr Kind „reparieren“ können. Dabei wird nicht gesehen, dass es bei der Unterstützung autistischer Kinder auch immer um eine Eltern-Kind-Beziehungseinheit gehen sollte. Das sieht übrigens der Gesetzgeber bzw. die zuständigen Hilfeinstitutionen (Sozialamt, Jugendamt) auch nicht immer. Die Eltern bleiben mit ihrer Hilflosigkeit außen vor. Auch die Eltern brauchen Hilfe, nicht allein das Kind. Eltern und Kind verfügen nicht automatisch über ein belastbares und funktionierendes Bindungssystem, woher auch.

 

Oft haben mir Mütter in den Selbsthilfegruppen berichtet, daß sie keinen befriedigenden Kontakt zu ihrem autistischen Kind aufbauen konnten. Ein Säugling kann nur über das Mittel der Mimik und Gestik Kontakte aufbauen. Der Gebrauch von Mimik und Gestik sind bei autistischen Menschen oft nicht befriedigend ausgebildet (vgl. Remschmidt; Kamp-Becker 2006, S. 19 ff.).

Das Kind erlebt, dass es in seiner Not bei der Mama kein Fürsorgeverhalten auslösen kann. Solche Erfahrungen können dazu führen, dass es den Betroffenen auch im weiteren Leben schwermacht, befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen.

 

Wir sind mit unseren Annahmen in den letzten Jahrzehnten weitergekommen, es gibt tatsächlich positive Veränderungen, wie ich ausgeführt habe. Jedoch sind die alten Annahmen immer noch in unseren Köpfen und teilen das Land in Träumer und Realisten. Es wiegt schwer, dass wir anscheinend gegen unsere innere Tendenz zur Gegenübertragung nichts ausrichten können. Es sei denn, wir wären ständig im Therapeuten-Modus, was natürlich nicht möglich ist. Evolutionär betrachtet bietet die Fähigkeit zur Gegenübertragung dem Menschen vermutlich Vorteile gegenüber den Tieren, die das nicht können.

 

Aber solange die Tendenz zur Gegenübertragung die Situation bestimmt, gibt es dagegen eine Abwehrstrategie. Eine Strategie zu überleben, die wir letztendlich mit dem Autismus verwechseln, wie Donna Williams meint. Wenn ich an heutigen Diskussionen rund um die Verhaltenstherapie teilnehme, dann erinnern mich Form und Inhalt oft an die Aufbruchsstimmung während der Mondfahrt. Alles ist dann sehr amerikanisch, sehr behavioristisch. Alles ist möglich, wenn man nur hart genug daran arbeitet. Es gibt keine Hindernisse, es sei denn, jemand will nicht mitmachen und ist bockig und frech. Es scheint Hunderte von Anleitungen für jede mögliche angestrebte Verhaltensänderung zu geben. Alles ist einfach, monokausal, klar und messbar. Der momentane Hype auf diesem Gebiet ist das Ergebnis von staatlicher Förderung, Geschäftsideen und Verdrängung des wirklichen Problems. Autismus sollte stattdessen einfach mal akzeptiert werden, sowohl von Nichtautisten, als auch vom betroffenen Menschen selbst. Ich habe mir schon als Kind gewünscht, man möge mit mir zusammen lachen können, oder sich mit mir wundern, wenn ich die Dinge der Welt plötzlich ganz geheimnisvoll empfunden habe, weil sie ihre profane Funktion aus irgendeinem Grund aufgegeben hatten. Eine Psychoedukation für Betroffene sollte eine Pflicht sein. Ebenso die Förderung der Fähigkeit zur professionellen Nähe der nichtautistischen Menschen zu den autistischen Menschen. Viele autistische Menschen, mit denen ich mich ausgetauscht habe, sehnen sich nach Nähe. Einer Nähe, bei der man sich nichts zu denken braucht. Die einfach da ist. Kurz und intensiv. Bei Menschen mit zusätzlicher kognitiver Beeinträchtigung sollte man den Fokus auf deren Lebenszufriedenheit legen und nicht so sehr über ihre ökonomische Nützlichkeit nachdenken. Sue Fletcher-Watson und Francesca Happé schreiben in ihrem neuen Buch „Autism“ (2019): „Die Lebenszufriedenheit autistischer Menschen hängt nicht so sehr von ihrem Autismus selbst ab, sondern vor allem von der Kompetenz und der Bereitschaft der Menschen um sie herum, sie zu verstehen, zu akzeptieren und zu unterstützen.“

 

Literatur

 

Asperger, H. (1944): Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Band 117, Nr. 1, S. 76-136

Fletcher-Watson, S.; Happé, F. (2019): Autism, A New Introduction to Psychological Theory and Current Debate, London.

Jochheim, G. (2016): INFO-Aktuell, Informationen zur politischen Bildung Heft 23/2016

Remschmidt, H.; Kamp-Becker, I. (2006): Asperger-Syndrom, Heidelberg

Riedel, A.; Clausen, J. (2016): ASS bei Erwachsenen, Köln. Seite 53, 54

 

Internetquellen

 

[1] Donna Williams: https://www.youtube.com/watch?v=A2XCw0kDAmY&t=10s

Stelle: 2:19 Minuten [Zugriff: 15.01.2020]

[2] John B. Watson: https://de.wikipedia.org/wiki/John_B._Watson [Zugriff: 15.01.2020]

[3] Roman Widholm: Vortrag: „Das Problem der Stimme im Autismus“, Philosophische Audiothek, https://audiothek.philo.at/podcasts/sigmund-freud-vorlesungen-2015 [Zugriff: 15.01.2020]

03.06.2018

 

Autismus und die Ausstellung: 

Dialog im Dunkeln ®

 

Im Autismus ist vieles sehr auf das Optische ausgerichtet. Visuelle Unterstützungen sind nämlich für die typischen Orientierungsstörungen autistischer Menschen sehr hilfreich. Die meisten Therapierichtungen nutzen die visuellen Hilfestellungen für Menschen mit einer autistischen Störung.

Doch wie äußert sich die autistische Störung, wenn der gesamte visuelle Wahrnehmungsbereich plötzlich wegfällt? Genau das war meine Frage. Wie wird mein Unbewusstes auf eine solche Situation reagieren? Wie kann ich Ängste bis hin zur Panik verhindern, wenn ich eine chaotische Situation nicht unmittelbar beenden kann, weil ich den Fluchtweg nicht sehe? Der Verzicht auf das visuelle Wahrnehmungssystem stellt eine enorme Herausforderung an den Betroffenen, sowie an seinen Begleiter dar.

Meine Begleiterin war Frau Dörte Maack, eine nicht-sehende Frau, die mich eingeladen hatte, mich von ihr durch die Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ in Hamburg führen zu lassen. Frau Maack ist Profi, was das angeht. Ich lernte Frau Maack als Moderatorin auf dem Fachtag für Inklusion in Hildesheim kennen. Sie hat die 200 Teilnehmer sehr eloquent und in ihrer Person völlig präsent durch das Programm geführt.

 

Wir lassen die reguläre Gruppe vor und starten das Experiment. Schon nach kurzer Zeit kann ich meine Emotionen nicht mehr kontrollieren und weine. Ich hatte damit gerechnet und vorsorglich reichlich Papiertaschentücher mitgenommen. Ich fühle mich grenzenlos verlassen, das Gefühl wird so stark, daß ich mich setzen muß. Die Motivation weiterzumachen strebt rasch gegen Null. Es vergeht eine unbestimmbare Zeit der inneren Beobachtung. Ich höre dann die Stimme von Frau Maack. Sie ruft mich. In mir wird die Assoziation an eine Mama, die ihr Kind ruft, angestoßen. Unwillkürlich muß ich lachen. Gerade über dieses Thema hatte ich in der letzten Zeit viel gelesen. Mir ist so, als werde ich tatsächlich in die Welt zurückgerufen. Meine Emotionen verlieren ihren bedrohlichen, chaotischen Charakter. Es geht wieder ein Stück weiter. Ich kann mir allerdings keine Vorstellung mehr machen, wo ich bin. Ich orientiere mich in Zentimeterschritten weiter. Es erinnert mich an schlimme Zeiten in meiner Kindheit. Ein Gang um den Häuserblock war wie eine Reise in einen fremden Kosmos in der Ungewissheit einer möglichen Rückkehr. Auch heute kann ich mich immer noch schnell verlaufen. In dem Cafe im Inneren der Ausstellung bestelle ich mir einen Kaffee. Ein Kaffee gibt mir eine innere Orientierung, das habe ich trainiert. Es funktioniert auch hier in völliger Dunkelheit. Frau Maack hat für uns eine Sitzmöglichkeit ausgemacht, sie ist schon dort und ruft mich. Mit der Tasse in der einen Hand, den Stock in der anderen Hand stehe ich irgendwo und rühre mich nicht. Jeder Schritt erscheint mir zwecklos. Mir gelingt es auch nach mehreren Minuten nicht, eine Vorstellung von der Sitzmöglichkeit zu machen. Ich muß mich fest entschließen, etwas zu tun und erreiche nach einiger Zeit die Nähe zu der mich rufenden Stimme. Jetzt sind auch meine Hände durch Tasse und Stock blockiert. Mit dem Fuß ertaste ich etwas, das eine Bank sein könnte. Mehrmals mache ich den Versuch mich zu setzen, jedoch ohne eine Bank zu treffen. Nach langem Probieren sitze ich endlich. Der Kaffee schmeckt gut. Mir fällt auf, daß ich Schwierigkeiten habe, mich an den Ablauf des Experimentes zu halten, stattdessen würde ich mich jetzt gerne mit meinem Gefühl des „Ich weiß nicht weiter“ beschäftigen, um es loszuwerden. Ich würde gerne etwas tun, weiß aber nicht was. Die freundliche Stimme von Frau Maack ist in diesem Moment eine wichtige Orientierung, die mich sicher macht.

Fazit: Der Drang des Menschen die Umwelt zu ordnen ist eine lebensnotwendige Funktion. Die autistische Störung behindert diesen Prozess erheblich, sodaß Betroffene sich oft mit nur einfachen Schablonen begnügen müssen. Der in diesem Experiment notwendige Tausch von optischen Informationen zu akustischen Informationen, besonders zum gesprochenen Wort, ist nicht einfach, da gerade das miteinander sprechen soziale Kompetenz erfordert, an der es Menschen mit ASS mangelt. Gerade an dieser Stelle kommt es üblicherweise immer wieder zu Missverständnissen und im Ergebnis zu negativen Emotionen. Hier in diesem Experiment war von diesen Missklängen nichts zu spüren. Ich hatte das Gefühl, mich begleitet eine mir völlig vertraute Person.

Es wäre eine interessante Aufgabenstellung, zu schauen, welche Faktoren in der Ausstellung „Dialog im Dunkeln“ ® bei Menschen mit ASS zu einem positiven Besuchserlebnis führen und ob diese Faktoren auch für andere Setting anwendbar wären.

 

 

Das Ende vom Autismus?

In dem Buch von Daniel Tammet: "Die Elf ist freundlich, die Fünf ist laut" lese ich auf Seite 11 den Satz: Doch im Gegensatz zu den auffälligen Symptomen und Verhaltensweisen, die er als Kind zeigte, bestätigt sein heutiges sehr hohes Entwicklungsniveau, seine eigene Feststellung, daß er zum Teil aus seinem Autismus "hinausgewachsen" sei." Und auch in dem Buch von Nicole Schuster: "Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung" lese ich ich auf Seite 9: "Mit diesem Buch möchte ich aus meiner Sicht Antworten geben . aus der Sucht einer jungen Frau, die ihren Autismus jetzt als weitgehend überwunden betrachtet, ..." Auch ich möchte mich dem anschließen und auch von mir behaupten, daß ich meinem Autismus in einem gewissen Maß entwachsen bin.
Wie komme ich zu dieser Aussage, wo mir doch bewußt sein sollte, daß Autismus auch als eine erblich bedingte Störung definiert wird. Die Annahme, daß Autismus eine genetische Disposition vorasusetzt, gehört zu dem Begründungsmodell einer summarischen Betrachtungsweise verschiedener Symptome. Die meisten dieser Symptome beziehen ihre Wirklichkeit aus der Beobachtung von Verhalten und Reflexion darüber. Das, was da beobachtet wird, ist das Verhalten in und auf eine spezifische Situation.
Vermutlich haben sich inmeinem Leben nicht nur diese spezifischen Situationen, sondern auch das Werkzeug, mit dem ich auf diese Situationen reagiere, verändert. Somit sind alte Verhaltensmuster, die mit Autismus assoziiert werden, deutlich geringer geworden.
Beispiel: als Jugendlicher gelang es mir nicht, mich einer Peergroup anzuschließen und mich über Moped, Autos und Mädchen auszutauschen. Als alter Mann brauche ich das nun nicht mehr. Das heißt: die spezifischen Situationen, in denen meine Leben stattfindet, haben sich geändert. Auch Überlegungen über die Ausbildungs- und Berufswahl sind für mich heute nicht mehr relevant. Auch meine Schwierigkeiten an der Uni werden sich nicht mehr wiederholen.
Man kann mutmaßen, ob sich nicht auch die beiden Autoren wie für mich selbst spezifische Situationen wohltuend verändert haben, sodaß mögliche alte Verhaltensweisen nicht mehr sichtbar werden. Man hat vielleicht die Schmerzen aus der Kindheit und Jugend überwunden und sich gute Kompensationsstrategien zugelegt. Ich lebe eine neutrale Position in der Erwachsenenwelt, fern ab vom normalen Berufsleben und fern ab von Familienfeiern, Vereinstreffen und natürlich auch immer noch fern ab einer Peergroup. Alte und vielleicht typische autistische Verhalten aus früheren Zeiten brauchen sich nicht mehr zu wiederholen. Dazu fehlt ganz schlicht der Anlaß.
Auch ein geregeltes finanzielles Auskommen, das unabhängig von einem bestimmten vorab definierten Arbeitseinsatz gewährt wird, kann bei vielen Autisten ein Erscheinungsbild möglich machen, das kaum noch an Autismus erinnert. Das bestätigen auch meine Erfahrungen aus der Selbsthilfegruppe, wo meist gerade die Versorgungsproblematiken beprochen werden.
Viele Ereignisse verlieren mit der Zeit ihre Wichtigkeit, Brisanz und auch ihre Gültigkeit. Das gilt natürlich auch für die vielen möglicherweise auch traumatisch erlebten Enttäuschungen vieler Autisten. Hilfestellungen werden oft nicht als ausreichend gewährt, was die Betroffenen in extreme existentielle Not und Angst führen kann. Besonders in solchen Fällen, wo Sprache und Kommunikation stark beeinträchtigt sind. Allein schon die Angst vor dem völlig Alleingelassensein, einer Art "Horror vacui" kann schon viele als typisch geltende autistische Verhaltensweisen auslösen. Solche Erlebnisse aus der frühen bis späten Kindheit können sich tatsächlich aus ganz unterschiedlichen Gründen "verwachsen" und im Alter kaum noch relevante Reaktionen hervorrufen. Ich kann mir vorstellen, daß auch psychotherapeutische Interventionsmodelle hier eine Hilfe sein können. Eine Stärkung des Charakters und ein gutes Verständnis der intrapsychischen Kräfte spielen sicherlich eine große Rolle in der Bewältigung des Alltags. Für am meisten geeignet halte ich pharmakologische, motopädische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen, um grundsätzlich störende psychische Auswirkungen und nicht nur die Sekundärstörungen des Autismus zu lindern.
Kinder- und Jungendtherapeuten legen in der Literatur, es sind meist die Elternratgeber und Elternleitfäden zum Thema Autismus, den Fokus auf kindliche Entwicklungschancen und messen Erfolge meist nur an einer vergleichbaren Selbständigkeit mit anderen nicht beeinträchtigten Kindern oder Jugendlichen. Das mag sicherlich der Erwartung der Öffentlichkeit an meßbaren Veränderung in bestimmten Zeitintervallen entsprechen, macht für mich aber keinen Sinn, weil die Qualität der Kompensationsstrategie in solchen Vergleichen nicht berücksichtigt wird. Auch die mit dem Alter mehr oder weniger steigende Lebenserfahrung ist erheblich an der Lebensführung beteiligt. Mir sind jedoch keine Studien bekannt, in denen autistisches Verhalten und Kompensation besonders bei älteren Menschen untersucht wurden.
Man kann sicherlich davon ausgehen, daß gerade bei älteren Menschen Symptome aus dem Formenkreis einer autistischen Störung auf grund ihrer Ähnlichkeit zu anderen Störungsbildern meist auch diesen anderen Störungsbildern zugeordnet werden. Diese Symptome fallen dann aus der Gruppe autistischer Verhaltensmerkmale heraus. Depression und Sozialangst wären Beispiele dafür. Auch aufgrund dieser anderen Zuordnung erscheint der Begriff Autismus meist auch gar nicht in der Geriatrie.
Gelungene Kompensationsstrategie, günstig veränderte Lebensbedingungen und nicht mehr relevante Symptome können das Bild entstehen lassen, daß Autismus im frühen oder späteren Erwachsenenalter in einem gewissen Maß nicht nur reduziert, sondern auch überwunden werden kann.

Deutschlandradio Kultur

- Politisches Feuilleton                     (22.04.2014)

"Kranksein ist nicht mehr normal" so heißt der Beitrag von Michael Böhm. "Heute, in unserer offenen, individualisierten Gesellschaft wäre der Komponist Franz Schubert ein Borderliner, der Schriftsteller George Orwell ein Autist mit "Asperger-Syndrom". Beide hätten Antidepressiva zu schlucken, doch wohl keine Muße mehr, um "Die unvollendete Synphonie" oder die "Farm der Tiere" zu schreiben.
Genauso müßten wir auf die "Suche nach der verlorenen Zeit" verzichten, denn der Hypochonder Marcel Proust würde sichmit Tropfen gegen Verdauungs- und Schlafstörungen medikamentieren. Er würde seine tatsächlichen oder eingebildeten Leiden nicht mehr durch Schreiben zu heilen suchen."
Ja, diesen Gedanken kann ich gut nachvollziehen. Meine Mailbox füllt sich jeden Tag mit neuen Therapie-Angeboten und Strategien zur Behandlung von Autismus. Mir wäre es wichtig, Hinweise und Ideen zu diskutieren, was dem Betroffenen mit seinem Autismus möglich wäre.
Der gewaltige Umfang dieses Aspektes wird gar nicht bedacht. Statt dessen begnügt sich die breite Öffentlichkeit mit plakativen Vereinfachungen der Möglichkeiten eines Autisten beruflich tätig zu sein, wie beispielsweise die Gleichung zeigen könnte:
Autismus = Hochbegabung = Computerspezialist
Dabei sind nur etwa 10% der berufstätigen Autisten in der IT-Branche tätig, die meisten gehen ganz unspektakulären Tätigkeiten nach.